Wissen

Kopf und Körper im Wechselspiel

Wie Menschen auf die Diagnose einer schwerwiegenden Krankheit reagieren, ist sehr unterschiedlich. Klar ist nur: Körperliche Erkrankungen beeinflussen die Psyche – und umgekehrt.

Text: Regula Grünwald

«Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?», fragt man das Gegenüber, wenn es schlecht gelaunt ist. Plagen einen hingegen Sorgen, liegt einem etwas auf dem Magen. «Solche alten Redewendungen deuten an, dass zwischen Kopf und Körper sehr enge Zusammenhänge bestehen», sagt Dr. phil. Alfred Künzler, Psychotherapeut und Präsident des Vereins chronischkrank.ch. Dies verdeutlicht auch das 1977 vom amerikanischen Psychiater George L. Engel entworfene «biopsychosoziale Modell von Gesundheit und Krankheit». 

Gemäss diesem Modell sind biologische, psychische und soziale Faktoren Teile eines verflochtenen Ganzen, die sich gegenseitig beeinflussen und in das Verständnis von Entstehung und Verlauf von Krankheiten einbezogen werden müssen.1

Von Lebensglück bis Depression 
So erstaunt es nicht, dass körperliche Krankheiten erwiesenermassen Auswirkungen auf die Psyche haben – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Bei manchen Menschen wirke sich eine schwerwiegende Diagnose positiv aus, sagt Alfred Künzler. «Die Konfrontation mit ihrer eigenen Verletzlichkeit ermuntert manche Leute dazu, ihrem Leben einen neuen Dreh zu geben und es so zu verändern, dass sie trotz schwerer Krankheit zufriedener sind.» Diese Gruppe sei jedoch eine Minderheit; schätzungsweise ein Viertel der Betroffenen erlebe so etwas, sagt Künzler. Bei einem weitaus grösseren Teil ist der Umgang mit einer gravierenden Erkrankung schwieriger. Rund ein Drittel der Betroffenen durchlebt nach der Diagnose depressive Episoden, bei Menschen mit der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) leiden rund 15 Prozent der Betroffenen an einer Angststörung.2

Verlusterlebnis ist prägend 
Der Beginn einer chronischen Krankheit bedeute häufig einen Verlust, sagt Alfred Künzler. Betroffene verlieren ihren bisherigen Alltag, ihre Zukunftspläne, vielleicht ihre Arbeitsstelle. «Und sie verlieren das Gefühl, dass sie sich auf sich selbst und den eigenen Körper verlassen können. Dies ist ein einschneidendes Erlebnis.» 

Schwierig seien für viele auch der Kontrollverlust, die Ungewissheit und die Hilflosigkeit: Sie wissen nicht, wie die Krankheit verlaufen wird, sie sind abhängig vom Gesundheitssystem, von medizinischen Fachpersonen, vielleicht von Angehörigen. «Dies kann zu Stress führen. Und ebenso wie der körperliche Zustand die Psyche beeinflusst, kann die psychische Verfassung den Krankheitsverlauf beeinflussen.» 

«Wie der körperliche Zustand die Psyche beeinflusst, kann die psychische Verfassung den Krankheitsverlauf beeinflussen.»
Dr. phil. Alfred Künzler, Psychotherapeut und Präsident des Vereins chronischkrank.ch.

Psychologische Arbeit und körperliche Symptome 
Psychische Störungen wirken sich negativ auf die Prognose von und die Lebensqualität bei chronischen Krankheiten aus. So weisen Betroffene vermehrt Probleme bei der Einhaltung ihrer Therapie auf und zeigen öfter ein ungünstiges Gesundheitsverhalten3, sei es durch mangelnde Bewegung, falsche Ernährung oder den Konsum von Suchtmitteln wie beispielsweise Zigaretten. Studien zeigen, dass psychologische Arbeit nicht nur den Umgang mit der Erkrankung verbessert, sondern auch auf körperliche Symptome einen positiven Einfluss hat. 

Betroffene bestimmen selbst 
Trotz dieser Kenntnisse: Zu einer erkrankten Person hinzugehen und sie aufzufordern, nun doch bitte positiv zu denken, sei keine gute Idee, sagt Alfred Künzler. «Ist jemand eher pessimistisch eingestellt, sind solche Ratschläge eine völlige Überforderung.» Besser sei es, Fragen zu stellen, zuzuhören und die Wünsche der Betroffenen zu akzeptieren. «Jeder Mensch geht mit einer solchen Situation anders um.» 

Mit der Sensibilisierung von Fachpersonen sowie der breiten Öffentlichkeit versucht der Verein chronischkrank.ch, psychologische Unterstützung einfacher zugänglich zu machen und die Hemmungen davor abzubauen.4 «Letztlich muss der Wunsch, eine Situation zu ändern, jedoch von den Betroffenen selbst kommen.»