Porträts

Wenn die eigene Stube zum Zufluchtsort wird

Im Frühling 2022 haben Daniela und Daniel Gasser-von Arx die Ukrainerin Anastasiia Sukhenko und ihren Sohn Stanislav bei sich aufgenommen. Die ungewohnte Situation erfordert von allen Offenheit und Toleranz.

«D.+D. Gasser» steht auf dem Schild eines braunen Briefkastens, der zu einem schmucken Häuschen in Aarau gehört. Daneben klebt ein handgeschriebener Zettel. «A. Sukhenko und Sohn» ist darauf zu lesen.

Einen sicheren Platz bieten

Das Haus gehört Daniela und Daniel Gasser-von Arx. Ihre Mutter habe den Zweiten Weltkrieg in Mailand erlebt, erzählt Daniela Gasser. «Ihr Haus wurde zerbombt, sie hat alles verloren. Die Erfahrungen meiner Mutter haben mich geprägt.» Auch später sei ihr das Thema Flucht immer wieder begegnet. Sei es im Studium, wo sie sich viel mit der Migration beschäftigt habe. Sei es als Mutter, deren Kinder Freunde aus Sri Lanka hatten. Sei es als Sozialarbeiterin bei der Lungenliga Aargau. «In meinem Beruf habe ich öfters mit Migrantinnen und Migranten zu tun. Mussten sie ihr Land unfreiwillig verlassen, kommt dieses Thema immer wieder hoch, auch wenn sie schon lange hier leben und gut integriert sind.» Als der Krieg in der Ukraine begonnen habe, sei für sie und ihren Mann deshalb klar gewesen, dass sie helfen möchten. «Diese Menschen können nicht vergessen, was sie erlebt haben. Aber wir wollten zumindest einen ruhigen, sicheren Platz bieten.»

Russische Panzer vor der Haustür

Seit April 2022 leben nun Anastasiia Sukhenko, genannt Nastja, und ihr vierjähriger Sohn Stanislav, kurz Stas, bei den Gassers. Seitdem die Kolonne der russischen Panzer durch ihr Dorf fuhr, ist für die 28-jährige alleinerziehende Mutter nichts mehr so, wie es war. Anfänglich hätten sie sich im Wald sowie bei einer Freundin versteckt, erzählt sie. Mit ihren blaugrünen Augen blickt sie dabei abwechslungsweise die Dolmetscherin und Daniela Gasser an. Diese hört, obwohl sie kein Ukrainisch versteht, aufmerksam zu. Derweil spielt Stas mit einem Duploflugzeug. Ob das Geräusch, welches er dabei macht, das Dröhnen der Turbinen imitieren soll oder doch eher Schüsse, ist schwierig zu sagen.

«Wir haben jeden Tag Kontakt»

Um Stas zu schützen, habe sie sich schliesslich für eine Flucht entschieden, sagt Nastja Sukhenko. Ihre Mutter hingegen ist in der Ukraine geblieben, wo sie sich um den grossen Garten sowie Hund und Katzen kümmert. «Wir haben jeden Tag Kontakt.» Sobald die Lage es erlaubt, möchte Nastja Sukhenko wieder zurück. «Gestern hat Stas mir gesagt, dass er nach Hause will. Zu seiner Grossmama», sagt sie, und erstmals in dem Gespräch wird ihre Stimme brüchig, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Daniela Gasser blickt sie verständnisvoll an, streicht ihr über den Arm. «Dieses Gefühl der Ohnmacht, das einen in solchen Momenten befällt, müssen wir irgendwie zusammen aushalten.» Denn noch scheint die Möglichkeit einer Rückkehr in weiter Ferne zu sein. In Kiew hatte Nastja Sukhenko an der akademischen Fakultät für Musikkunst Gesang studiert und danach im Haus der Kultur an ihrem Wohnort Kinder und Jugendliche in Gesang unterrichtet. «Nach dem Krieg wird es schwierig, in diesem Bereich Arbeit zu finden.»

Atemnot wegen Coronainfektion

Neben der belastenden Situation durch den Krieg und die Flucht ist Nastja Sukhenko auch gesundheitlich angeschlagen. Vergangenen Winter hatte sie sich mit Corona infiziert und verbrachte mehrere Wochen im Spital, zunächst auf der Intensivstation. Auch danach besserte sich ihr Zustand nur langsam. «Alles war unglaublich anstrengend. Den Weg vom Bett in die Küche schaffte ich nur mit zusätzlichem Sauerstoff.» Mittlerweile geht es ihr besser. Bei körperlicher Anstrengung, in der Höhe und bei Kälte leidet sie aber noch immer unter Atemnot. «In der Lungenliga Aargau arbeiten wir mit sehr guten Pneumologinnen und Pneumologen zusammen. Sollen wir schauen, dass du zu einer Lungenkontrolle gehen kannst?», fragt Daniela Gasser. Nastja Sukhenko nickt dankbar.

Zu Selbstständigkeit ermuntern

Da die Ukrainerin bislang kaum Deutsch und nur wenig Englisch spricht, ist die Kommunikation nicht einfach. Wir übersetzen oft mit dem Handy. Unmittelbare Emotionen und die Spontaneität gehen dadurch verloren», sagt Daniela Gasser. Dennoch ermuntert sie Nastja Sukhenko, möglichst selbstständig zu sein. «Das mag teilweise als streng erscheinen. Aber aus meiner Erfahrung als Sozialarbeiterin der Lungenliga Aargau weiss ich, dass es den Menschen nichts bringt, wenn wir alles für sie erledigen. Das macht sie abhängig. Unser Ziel ist es, sie mit Empathie und Mitgefühl zu befähigen, ihren Alltag selbst zu bewältigen.» Sie zeige Nastja deshalb oft einfach auf, wo sie Hilfe bekomme. «Sie bringt ja schon ganz viele tolle Fähigkeiten mit, die sie auch hier nutzen kann.»

«Die Menschen wollen helfen»

Von Freunden, Familie und manchen Institutionen erfahre sie viel Solidarität, sagt Daniela Gasser. So muss sie etwa in der Spielgruppe, die sie für Stas organisiert hat, nur einen Tag bezahlen. Der zweite ist kostenlos. Auch die finanzielle und materielle Unterstützung von Bekannten sei nützlich, denn die Sozialhilfe reiche für Nastja und Stas kaum zum Leben, betont Daniela Gasser. «Die Menschen wollen helfen. Das ist schön.» Während Daniela Gasser spricht, lächelt Nastja Sukhenko und blickt dann zu ihrer Gastgeberin. «Mit Daniela und Daniel haben wir zwei wunderbare Menschen kennengelernt. Sie sind sehr gut zu uns und wir sind froh, dürfen wir hier sein.» Dennoch ist die Situation nicht einfach. Sie sei es gewohnt, alles selbst zu machen. Hier hingegen benötige sie Hilfe: «Ich frage mich ständig: Mache ich das richtig? Stören wir jemanden? Fallen wir zur Last? Mit einem Kind ist es noch schwieriger: Es kann nicht immer nur ruhig sein.» Stas, der inzwischen in den Garten gegangen ist, kommt mit einigen Gänseblümchen zurück, die er an seine Mutter und Daniela Gasser verteilt. Letztere streicht ihm über den blonden Kopf und bedankt sich ganz langsam und deutlich auf Deutsch.

Gemeinsam singen

Auch ausserhalb des Bekanntenkreises der Familie Gasser hat Nastja Sukhenko schon Anschluss gefunden. In einer Kirche in Zürich treffen sich regelmässig ukrainische Frauen, um gemeinsam zu singen. Die offene junge Frau hofft, dass daraus einige Projekte entstehen. «Ich bin sehr dankbar, darf ich mit Stas hier in der Schweiz sein. Nun möchte ich möglichst bald Deutsch lernen und die Schweizer Kultur und Lebensweise besser kennenlernen, damit ich Arbeit finden und mich integrieren kann», betont sie. Einen Unterschied hat sie schon entdeckt: «In der Ukraine legen wir grossen Wert auf die eigenen Traditionen, also ukrainische Musik, Geschichten und Folklore.» Auf die Frage nach einer Kostprobe beginnt Nastja Sukhenko unvermittelt zu singen. Während alle Anwesenden wie gebannt ihrer Stimme lauschen, schweift ihr Blick ab, in die Ferne. Was sie dort sieht, weiss nur sie allein.1

1) Das Interview wurde im Mai 2022 geführt.