
«Wie es mir geht, fragt selten jemand»
Nach vielen Nebeltagen strahlt draussen endlich die Sonne, die ersten Blumen malen farbige Tupfer in die Wiese vor dem Haus, und die Vögel zwitschern fröhlich. Renate (80) und Walter Käser (82) bleiben trotzdem in der Wohnung. Seit kurzem braucht Walter, Patient der Lungenliga Solothurn, aufgrund seiner Erkrankung an einer Idiopathischen Lungenfibrose IPF1 auch tagsüber Sauerstoff. Dank des tragbaren Sauerstoffgeräts wäre er mobil, aber nun hindert ihn ein entzündeter Nerv im Rücken, rauszugehen. Velotouren, Ferien an der Nordsee, die Schwester in Napoli besuchen: Weil ihr Mann krank ist, verzichtet Renate auf vieles. Ist das nicht schwierig für sie? «Nein, nach meiner schlimmen Kindheit hat mir Walter das Leben gerettet. Auf zwanzig harte Jahre folgten sechzig sehr glückliche. Warum sollte ich jammern?»
Als Verdingkind allein zehn Kühe melken
Als Renate acht Jahre war, wurde sie ihrer Mutter entrissen und zu einer «Pflegefamilie» ins Bernbiet verfrachtet. Niemand erklärte ihr, warum − sie konnte sich nicht einmal von ihrer Mutter verabschieden. Auf dem Bauernhof besorgte das Mädchen den Stall. Zuerst die Ziegen, dann die Kühe. Im Alter von zehn Jahren melkte sie morgens und abends allein zehn Kühe. Und kassierte Schläge. Auf ihr Brot kam keine Butter, diese war der Familie vorbehalten. Mit elf Jahren sagte sie in der Schule, sie wolle nicht mehr leben. Statt das verzweifelte Kind ernst zu nehmen, reagierte man empört und verfrachtete Renate kurzum in ein Heim bei Bern. «Zur Freigabe abgegeben », schrieb die Behörde. Dieses Schriftstück hat sie aufbewahrt. Auch im Aebi-Heim gehörte die Gewalt zur Tagesordnung. «Ich war nicht Renate. Ich war Nummer 16», erzählt sie. «Wir wurden nicht gefördert. Nach der Schule hatte ich den Bildungsstand einer Fünftklässlerin. » Renate wollte Schneiderin werden. Dafür habe sie einen zu breiten Hintern, sagte der Heimvater abschätzig. Dann Gärtnerin? Dafür sei sie zu dumm. Aber sie setzte sich durch. Das Fähigkeitszeugnis als Gärtnerin hat sie auch säuberlich aufbewahrt: Bestnoten.
Foto: Renate und ihre Schwester mit der Mutter.
Erst mit zwanzig durfte Renate zu ihrer Mutter ziehen. «Wir hatten es gut zusammen. Warum sie eine so schlimme Frau gewesen sein soll, wie mir eingebläut wurde, konnte ich nie nachvollziehen. Als ich als Kind beim Abschied jeweils einte, hiess es, wegen einer solchen Frau weine man doch nicht.» Heute nimmt Renate am Erzählbistro, dem Begegungsort für die Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, teil und besucht Schulklassen: «Das Schicksal der Verdingkinder darf nicht vergessen gehen!» Trotz allem: Mit der Tochter der Pflegefamilie pflegt Renate noch heute ein herzliches Verhältnis. Diese ist sogar die Patin ihres Sohnes. «Sie kann ja nichts dafür!»
Glückliche Familienjahre
Noch im Kinderheim versprachen sich Renate und ihre beste Freundin, später gegenseitig die Trauzeugin der anderen zu werden. Das Versprechen hielten sie. Bei der Hochzeit ihrer Freundin hiess der Trauzeuge Walter. «Es war Liebe auf den ersten Blick», erzählt Renate strahlend. «Meine Träume sind in Erfüllung gegangen: Jeden Tag für mein Kind da zu sein und eine liebevolle Ehe zu führen.» Der Sohn und die Schwiegertochter wohnen im Haus nebenan, die Enkelin ist inzwischen erwachsen. Die Beziehung bleibt herzlich. Ramona kommt jede Woche einmal zu O-Mami und O-Papi zum Essen. Renate und Walter geniessen auch nach 58 Ehejahren jeden Tag zusammen. «Es vergeht kein Abend, an dem er mich nicht liebevoll zudeckt und mir einen Gutenachtkuss gibt», schwärmt Renate. «Wir lachen viel, auch über uns selbst. Wir haben es einfach gut. Das ist ein Geschenk.»
In der Musik die Sorgen vergessen
Das einzige Spielzeug, das Renate als Kind besass, waren Glasmurmeln. Sie sind ihr deshalb heilig und stehen gut sichtbar in der Wohnwand. Von Musikunterricht konnte sie als Kind nur träumen. Doch musikalisch, wie sie war, lernte sie allein Blockflöte und Mundharmonika spielen. Als ihr Sohn Andreas später den Handharmonika-Unterricht besuchte, sog sie alles wie ein Schwamm auf. Bei einer zufälligen Begegnung mit der Musiklehrerin gestand Renate dieser, dass sie zu Hause mitübe. Diese lud sie kurzerhand dazu ein, den Sohn in den Unterricht zu begleiten. Bald spielte Renate so gut, dass sie im Handharmonika-Orchester Solothurn mitspielen konnte. Nach vielen Jahren wechselte sie zu einer Schwyzerörgeli-Gruppe. «Beim Musizieren kann ich alles vergessen. Einmal war ich so in das Spiel vertieft, dass ich sogar vergass, das Mittagessen zu kochen», lacht sie.
Foto: Beim Schwyzerörgelispielen vergisst Renate Käser alles.
Das schlimme Jahr
Im Jahr 2019 passierte kurz hintereinander ein Unglück nach dem anderen. Zuerst erhielt Walter die Diagnose IPF. Bald darauf brach sich Renate den Oberschenkelhals. Während sie im Spital war, brach er zu Hause zusammen und konnte nicht mehr aufstehen. Lange achtzehn Stunden lag er allein am Boden, bis ihn die Enkelin fand. In den folgenden Wochen weilte Renate für die Rehabilitation in Rheinfelden, Walter in Weggis. «Getrennt und so weit weg voneinander zu sein, war furchtbar. Wir wussten nicht, wohin es geht. Auch deshalb sind wir jetzt auf alles vorbereitet», erzählt Renate.
Für das Ende ist alles geregelt
Renate und Walter haben für ihr Ableben alles geregelt und Patientenverfügungen ausgefüllt. Walter Käser war Polizist. In dieser Funktion fiel ihm immer die delikate Aufgabe zu, die Hinterbliebenen über den Tod ihrer Liebsten zu informieren. «Der Schock, zu erfahren, dass ihre Angehörigen gestorben sind, war das eine. Aber es haben auch immer alle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, weil sie nicht wussten, was sie nun machen sollten. Wünscht die verstorbene Person eine Kremation oder eine Erdbestattung? Eine Trauerfeier in der Kirche? Eine Beerdigung auf dem Friedhof? Ein Grabessen? Wird das ganze Dorf eingeladen oder nur der engste Kreis? Ich habe mir damals geschworen, meiner Familie nie solche Entscheidungen zu überlassen», sagt Walter. «Aber jetzt wollen wir es noch zusammen geniessen, solange es geht.»